Industriegeschichte hautnah
Einzigartige Monumente der Industriekultur
Sie sind weltweit einmalig und die letzten Zeugen ihrer Art aus vergangenen Zeiten massiver Kalksteingewinnung und Kalkproduktion: die baulichen Relikte der Baustoffindustrie im Freilichtmuseum Museumspark Rüdersdorf bei Berlin. In der riesigen Halle der architektonisch sehr imposant anmutenden Schachtofenbatterie, die „Kathedrale des Kalks“, erhält man allerdings auch eine Ahnung davon, unter welch körperlichen Strapazen die Kalksteingewinnung und -verarbeitung dort stattfand. Doch wie kam es überhaupt dazu, dass ausgerechnet Rüdersdorf zu einem der zentralen Orte der Kalkgewinnung in Norddeutschland wurde?
Nur knapp 30 Kilometer östlich vom Alexanderplatz in Berlin entfernt, hat der Ort eine kaum hoch genug zu einzuschätzende Bedeutung für die städtebauliche Entwicklung Berlins zu einer der führenden Metropolen Europas innegehabt. Und auch heute noch wird die Entwicklung der Metropole durch Rüdersdorf weiter vorangetrieben. Denn Rüdersdorf besitzt etwas, das für die bauliche Entwicklung von Städten sehr nützlich ist: Kalkstein.
Kalkstein ist ein perfekter Stoff, um Branntkalk und Zement herzustellen. Und in Rüdersdorf wird beides heute noch in großem Umfang hergestellt, allerdings mittlerweile in hochmodernen Produktionsstätten. Kalkgestein besteht überwiegend aus Calciumcarbonat (CaCO3). Es ist ein äußerst variables Gestein. Dies betrifft sowohl seine Entstehung als auch seine Eigenschaften, das Aussehen und die wirtschaftliche Verwendbarkeit. Die meisten Kalksteine sind biogener Herkunft (also von Lebewesen gebildet), es gibt aber auch chemisch ausgefällte und klastische Kalksteine. Sie besitzen eine enorme wirtschaftliche Bedeutung als Rohstoff für die Bauindustrie und als Naturwerkstein.
In Rüdersdorf befindet sich einer der größten Kalksteintagebauten Mitteleuropas, weil eine besondere geologische Situation hier den Kalkstein an die Oberfläche transportierte. Diese mächtigen Kalksteinablagerungen sind Rückstände eines Meeres aus der Trias-Erdzeitphase (251,9 bis 201,3 Millionen Jahren vor heute). Und seine Überreste fanden seit ihrer Besiedlung durch den Menschen als Baustoffe Verwendung. Schon seit über 767 Jahren wird in Rüdersdorf Kalkstein abgebaut und der Tagebau ist heute immer noch aktiv. Er wird noch mindestens bis zum Jahr 2062 bewirtschaftet werden. Für Berlin war der Rüdersdorfer Kalkstein zu allen Zeiten enorm wichtig. Ohne ihn wäre die rasante Entwicklung Berlins zur Metropole so nicht möglich gewesen. Denn der aus dem Ort vor den Toren der Stadt stammende Branntkalk ist ein unentbehrlicher Bestandteil für Mörtel, der die Ziegelsteine zusammenhält, aus denen die meisten älteren Häuser gebaut sind. Viele Gebäude – zum Teil auch sehr bekannte - sind zudem mit Kalksteinplatten oder Bausteinen aus Rüdersdorf verkleidet, gebaut oder haben Rüdersdorfer Kalksteine als Fundament, wie z.B. das Brandenburger Tor.
Der Ort Rüdersdorf hatte lange Zeit nicht gerade einen guten Ruf. Die einsetzende industrielle Entwicklung des Ortes brachte Unmengen an Rauch, Qualm und Staub mit sich. Seit Bestehen des Bergbaus wurde hier unter teilweise schwierigsten Bedingungen und ohne Rücksicht auf Menschen oder Umwelt Kalksteine im Tagebau gebrochen und verarbeitet.
Mit der einsetzenden Industrialisierung wurde der Branntkalk anfangs in den sogenannten Rumford-Öfen hergestellt, die auch als Rüdersdorfer Öfen bezeichnet werden. Sie lösten die alten und deutlich weniger produktiven Kammeröfen ab. Es handelte sich dabei Steinöfen, die nach ihrem englischen Konstrukteur, dem Earl Benjamin of Rumford, benannt sind. Zwei davon sind noch im Museumspark erhalten. Indem der Kalkstein durch Befeuerung zum Glühen gebracht wurde, verwandelte er sich. Das Ergebnis des so entsäuerten, kohlensauren Produkts ist Calciumoxid (CaO). Dieser Stoff mit einem pH-Wert von 13 bis 15 ist stark alkalisch. Calciumoxid wird als Branntkalk, gebrannter Kalk, ungelöschter Kalk oder Ätzkalk bezeichnet. Branntkalk ist weißlich und kleinkörnig bis pulverig. Das entstehende Material wurde zermahlen und in Fässern abtransportiert oder mit Wasser vermischt zu Löschkalk weiterverarbeitet.
Die bestehende Rumford-Technik aus den Anfängen des 19. Jahrhunderts reichte bald nicht mehr aus, um den rasant ansteigenden Bedarf zu decken. Dazu bedurfte es neuer technischer Anlagen. Im Jahre 1871 wurde deshalb mit dem Bau der „Schachtofenbatterie“ begonnen. Bereits ein Jahr später wurde sie in Teilen in Betrieb genommen, im Jahr 1877 wurde sie fertiggestellt. Sie vervielfachte bald die Produktion und die Erträge. Von da an prägten achtzehn dunkel qualmende Schlote den Rüdersdorfer Alltag. Unterhalb der Schlote befanden sich die heißen Öfen, die immerzu mit Kalkstein befüllt und mit Kohle und Koks befeuert werden mussten. Der Ausstoß aus den Schloten, die natürlich keine Filter besaßen, bestand aus Rußpartikeln und Steinstaub des weiterverarbeiteten Kalksteins. Die emittierte Partikelmenge war unglaublich hoch. Der mit der Luft transportierte Feinstaub setzte sich in der ganzen Gegend ab und beeinträchtigte die Gesundheit der Bewohner. Vor allem in der Nacht rieselte Zementstaub auf Menschen, Tiere, Pflanzen, das Erdreich und die Bauten in Rüdersdorf und Umgebung. Und so konnte es auch geschehen, dass ganze Hausdächer einstürzten, weil sie sich der Last der steinharten Schichten nicht mehr entgegensetzen konnten. So ging es über viele Jahre. Zudem wurden weitere stark emittierende Industriebauten (u.a. Zementwerke) im Ort aufgebaut. Dazu zählt auch das vom Museumpark gut einsehbare, aber nicht dazugehörende riesige Phosphatwerk, ein erstaunlicher Industriebau aus den Jahren 1940 bis 1942, der ursprünglich als Fabrik für der Bauxitgewinnung gebaut worden war.
Fast 90 Jahre war die Schachtofenbatterie in Betrieb, wenngleich zuletzt nicht mehr in Volllast, und das obwohl zu DDR-Zeiten diese Technik schon als absolut veraltet galt. Wenn sich Rüdersdorfer Bürger und Arbeiter über den Staub beschwerten, der ihre Lungen angriff und damit schwere Gesundheitsschäden hervorrief, wurde ihnen achselzuckend vorgehalten, sie würden nicht verstehen, „dass bei modernen neuen Industrieanlagen nicht die technologischen Voraussetzungen für die Reinhaltung der Luft geschaffen werden können". Filteranlagen würden die Produktion drosseln und da Rüdersdorfer Zement ein wichtiger Devisenbringer war, könne man sich solche Einschränkungen nun einmal nicht leisten. Erst 1967 wurde die Schachtofenbatterie stillgelegt und durch ein moderneres Werk ersetzt. Glücklicherweise wurde das imposante Gebäude jedoch nicht wie geplant abgerissen, sondern blieb als historisches Industriemonument erhalten, wenn auch zunächst in einem sehr schlechten Zustand. Heute ist sie saniert und der architektonische Star des Museumsparks. Zusammen mit den anderen historischen Bauwerken des Parks bildet sie ein Industriekulturensemble mit höchster internationaler Bedeutung. Die Schachtofenbatterie ist sowohl auf der oberen Beschickungsebene als auch im Inneren begehbar.
Doch es sind nicht nur die zahlreichen Rüdersdorfer Öfen, die den Museumspark so sehenswert machen. Einige raffiniert konstruierte Industrie- und Logistikbauten aus dem 19. Jahrhundert bilden heute die weiteren Hauptsehenswürdigkeiten des Freilichtmuseums. Da zu deren Bauzeiten legte die preußische Regierung großen Wert auf gut gestaltete Industrie- und Wirtschaftsbauten. So wurden damals zum Beispiel sogar die Öffnungen der Kanäle hin zum Tagebau mit imposanten steinernen Bögen eingefasst. Das klassizistisch gestaltete Eingangsportal Bülowbogen trägt die Jahreszahl 1816. Riesige Löwenköpfe flankieren die Inschrift, die an den um den Industriestandort Rüdersdorf verdienten Minister Ludwig Friedrich Graf von Bülow erinnert.
Im vorderen Bereich des Museumsparks sind die beiden imposanten Rumford-Öfen zu erkunden. Die urtümlich, nahezu burgenähnlich anmutenden Öfen besitzen höchsten Seltenheitswert und sind damit als Zeugnisse der Industriekultur des Kalksteinbrennens als extrem wichtig einzustufen. Von den ehemals sechs Öfen blieben zwei gut erhalten. Zwischen den beiden Rumford-Öfen liegen die Kammeröfen aus dem 16.Jahrhundert. Diese funktionierten nach einem anderen, weniger produktiven Brennprinzip. Dieses Ensemble zählt zu den wichtigsten Industriekulturgütern Brandenburgs. Die Besichtigung der Anlagen wird noch umso spannender, wenn man in direkter Nähe den Ausblick auf den beeindruckenden Tagebau auf sich wirken lässt. Der aktive über vier Kilometer lange und mehr als ein Kilometer breiten Kalksteintagebau lässt sich von mehreren Aussichtspunkten im Park in Augenschein nehmen. Im Mittelteil der Liegenschaft geben der sogenannte Seilscheibenpfeiler und die Seilbahn-Umlenkstation einen Eindruck vom Transport des Kalksteins vom Abbau zur Weiterverarbeitung vor Ort einen weiteren imposanten Eindruck über die Arbeitsprozesse am Tagebau.
Der Seilscheibenpfeiler wurde im Jahr 1871 errichtet. Er stellt das technische Bindeglied zwischen dem Schienennetz im Bruch und der Eisenbahnstrecke dar. Mit Hilfe eines Schrägaufzugs, wurde der Kalksteins in sogenannten Hunten (Transportbehälter mit Rädern) über eine 205 Meter lange, schräge Ebene von der knapp 50 Meter tieferen Sohle des Heinitzbruchs nach oben transportiert. Der Antrieb der Seilwinden erfolgte mittels einer 130 PS-starken Dampfmaschine. Mit der Flutung des Heinitzbruches im Jahr 1914 endete der Betrieb dieser Anlage. Der Seilscheibenpfeiler ist begehbar und dient nun als Aussichtsplattform in den Tagebau.
Direkt neben dem Seilscheibenpfeiler befindet sich die Seilbahnumlenkstation. 1953 wurde eine Seilbahn für den Tagebau errichtet, die etwa 30 Jahre lang Loren vom östlichen Teil des Tagebaus (dem damaligen Alvenslebenbruch) Kalkstein zum Zementwerk transportierte. Dieses Werk befand sich jenseits des Mühlenfließes. Eine gerade Seilbahn-Verbindung zwischen östlichem Tagebau und Zementwerk hätte ein Wohngebiet gekreuzt. Da dies auf jeden Fall vermieden werden sollte, wurde eine Umlenkstation (überwiegend aus Metall) gebaut. Deren Konstruktion musste dem enormen Zug der gespannten Drahtseile und der Last der mit Kalkstein beladenen Loren gewachsen sein. Auch die Umlenkstation ist begehbar und vermittelt einen hervorragenden Einblick in die Transportsituation des Kalksteins in der damaligen Produktionsphase.
Der Museumspark Rüdersdorf ist damit zu einem besonderen Zeitzeugen brandenburgischer Industriekultur geworden. Ein Besuch lohnt sich.